Goethe-Garten und Pädagogik

|   Botanik, Ökologie, Landschaft

João Felipe Toni

Elf Teilnehmende aus der 12. Klasse waren beim Vertiefungsfach «Goethe-Garten» an der Rudolf Steiner Schule in Wetzikon anwesend. Zwei Themen wurden bearbeitet: die Entwicklung und die Evolution der Pflanzen.

Unser Ausgangspunkt war die Sonnenblume. Wenn wir eine Sonnenblume betrachten, haben wir den Eindruck, dass es sich um eine echte Blume handelt, aber für einen geschulten Botaniker ist es in Wirklichkeit eine Pseudoblume (Pseudanthium). «Was, eine falsche Blume?» fragte eine Schülerin. Ja, die «Blüte» der Sonnenblume besteht aus einer Reihe winziger Blüten (d.h. einem Blütenstand), deren Anordnung den Eindruck einer einzigen grossen Blüte vermittelt. «Aber wieso bildet sich die Sonnenblume als eine scheinbare Blume?» Dies hat ein anderer Schüler gefragt. Mit dieser Frage konnten wir einen Gedanken- und Erfahrungsfaden ausarbeiten, der die Schüler dazu brachte, sich die Wirkung dieser beiden von Goethe beschriebenen grundlegenden Prozesse zu vergegenwärtigen: die Metamorphose und die Spezifikation. Einer der Hauptgründe dafür ist der hohe Grad an Komplexität (Synorganisation) der Blüten, die eine hohe Effizienz der Bestäubung und der Samenverteilung ermöglicht. Die Sonnenblumen gehören zur grössten Blütenpflanzenfamilie der Welt, den Korbblütlern mit etwa 24’000 Arten. An zweiter Stelle folgen die Orchideengewächse mit etwa 20’000 Arten und an der dritten die Leguminosen oder Bohnengewächse mit 18’000 Arten. Die Gesamtzahl der Arten für diese drei riesigen Familien allein beläuft sich auf etwa 62’000, was ungefähr 25 % aller Blütenpflanzenarten der Erde entspricht. Alle diese Pflanzenfamilien zeigen gleichzeitig einerseits eine starke Tendenz zur Metamorphose und andererseits eine Tendenz zur Bewahrung ihrer diagnostischen Merkmale, ihrer Spezifität. Sie weisen einen hohen Grad an Synorganisation auf. Das bedeutet, dass sich mehrere Organe – wie z.B. Röhren- und Zungenblütchen – zusammenschliesen, um ein übergeordnetes Gestaltprinzip – wie die Sonnenblumenblüte – zum Ausdruck zu bringen. Beim Studium der Metamorphose der Sonnenblume konnten die Schüler dieses grundlegende Prinzip der Synorganisation erkennen und so verstehen, was Goethe die Subordination der Teile nannte. Gleichzeitig haben wir uns auf den Bezugspunkt des Vergleichs, den Typus, festgelegt, damit wir einen kurzen Ausflug zu den Variationen der Blütenmorphologien im Laufe der jahrtausendelangen Evolution des Lebens auf der Erde unternehmen konnten. Ausgehend vom Komplexesten im Übergang zu den am wenigsten komplexen Organisationen lernten die Schüler die wichtigsten evolutionären Neuheiten unter den botanischen Familien (Basale Angiospermen, Rosideen und Asterideen) und die Bedeutung der Bestäuber für das Auftreten dieser neuen Merkmale kennen.

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