Gezähmte Steppenpflanze

|   Heilpflanzen, Präparateforschung

Ruth Richter

Vor sieben Jahren war an dieser Stelle schon einmal die Rede von Astragalus exscapus, dem stängellosen Tragant, der heute in der Schweiz nur im Wallis in wenigen, teilweise sehr kleinen Populationen vorkommt. Damals wurde berichtet, dass dieses für Wanderer und ForstarbeiterInnen unscheinbare Kräutlein für die ökologische Zunft als wichtige Zeigerpflanze für artenreiche Steppenrasen gilt, von denen während der letzten Eiszeit vor ca. 15’000 Jahren weite Teile Mitteleuropas besiedelt waren. Weil Astragalus exscapus noch immer in Gesellschaft dieser Arten wächst, wird den heute an geschützten Stellen zerstreuten Populationen nachgesagt, sie seien Relikte, die die letzte Eiszeit überlebt haben.

Die Pflanze erfreut sich einer wachsenden Nachfrage in der anthroposophisch erweiterten Medizin, wo sie u.a. bei Asthma und Borreliose verwendet wird. Um eine nachhaltige Ernte zu sichern, haben wir über mehrere Jahre das Projekt verfolgt, eine kleine Population am Wildstandort im Wallis mit aus einheimischem Saatgut gezogenen Jungpflanzen zu fördern. Diese Bemühungen haben aber nicht zu verbesserten Erntemöglichkeiten geführt.

Die Keimraten lagen um 25 %, auch wenn wir jeden Samen einzeln angeritzt haben. Die Jungpflanzensterblichkeit war hoch, das Wachstum extrem langsam, und nur sehr wenige Pflanzen waren fit genug, um sich am Naturstandort kräftig zu entwickeln.  Jahrelang haben wir diese Schwierigkeiten darauf zurückgeführt, dass wir die Pflanze und ihre Bedürfnisse nicht gut genug verstehen. Schliesslich erfuhren wir, dass bei den sehr alten und eher kleinen Populationen in der Schweiz hohe Inzuchtkoeffizienten gefunden worden sind, die alle erwähnten Probleme erklären könnten. Daher haben wir 2017 begonnen, Astragalus exscapus – fern vom Wildstandort – mit Saatgut aus dem Balkangebirge zu kultivieren.

An den markanten Unterschieden im Wachstum der beiden Saatgutherkünfte Schweiz vs. Bulgarien unter den gleichen Kulturbedingungen zeigte sich, dass sowohl die niedrigen Keimraten wie auch das zögerliche Wachstum zumindest weitgehend genetisch bedingt waren. 2017 keimten von den Samen aus dem Wallis 12.5 %, von den bulgarischen ca 70 %. Um die Trockenheit natürlicher Standorte nachzuahmen, wurden die Pflanzen im Tunnel gepflanzt und sehr selten gegossen. Die Pflanzen der bulgarischen Herkunft entwickelten sich mehrheitlich überaus kräftig. Sie bildeten bis auf einzelne Stellen einen dichten Bestand, nur wenige sind nach der Pflanzung abgestorben. Zahlreiche Pflanzen kamen bereits im ersten Vegetationsjahr zur Blüte. Bei einer Begehung haben wir eine Pflanze ausgegraben und bereits nach acht Monaten Wachstum eine sehr eindrückliche Wurzelentwicklung festgestellt (siehe Bild oben).

Im zweiten Vegetationsjahr begannen die Pflanzen bereits im März zu blühen. Ab Juni reiften Samen, und einige Blätter vergilbten. Gleichzeitig wurden neue Austriebe gebildet, und im Juli setzte erneut die Blüte ein. Den ganzen Sommer über sind Schoten mit Samen gereift. Nur gelegentlich wurden reife, vergilbte Schoten geerntet, viele sprangen auch auf und fielen zu Boden. Dennoch konnten über 2 kg Schoten gesammelt werden. Die Samenreife war immer mit dem Vergilben und Absterben von Blättern verbunden, aber die Pflanzen haben mehrfach aus dem Wurzelkopf Neutriebe gebildet. Nach einer kleinen Pause setzte sogar im September bei vielen Pflanzen wieder das Blühen ein.

Es zeigt sich, das Astragalus exscapus die Fähigkeit hat, aus der Kraft der Wurzel heraus vegetative und generative Prozesse gleichzeitig am Leben zu halten und zur Organbildung einzusetzen. Einzelpflanzen können über 20 Jahre alt werden. Die kräftige Wurzel scheint wie eine Art unterirdischer Baumstamm ein ausdauerndes rhythmisches Leben zu ermöglichen, das sich zwischen Neuaustrieb und Absterben an den Jahreszeiten orientiert.

Wir hoffen, dass sich die Kultur nachhaltig über mehrere Jahre etablieren lässt!

Das Projekt wird vom Verein Hortus officinarum und von der Schweizerischen Kommission zur Erhaltung von Kulturpflanzen (SKEK) unterstützt.

Astragalusblüten
Astragalus aus dem Wallis
Astragalus exscapus
Astragalus exscapus, Wurzel
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